Landesgeschichtliches Informationssystem Hessen

Topografie des Nationalsozialismus in Hessen

Weilmünster, Verwaltungsgebäude, Heil- und Pflegeanstalt

Klassifikation | Nutzungsgeschichte | Indizes | Nachweise | Abbildungen | Zitierweise
Klassifikation

Kategorie:

Verfolgung

Subkategorie:

Euthanasie 

Nutzungsgeschichte

Objektbeschreibung:

Das Verwaltungsgebäude befand sich am südwestlichen Beginn des Anstaltsgeländes. Der Bau misst an der längsten Seite etwa 40 Meter und ist zwischen 13,5 und 18,5 Metern breit. An diesem Objekt finden sich die architektonisch aufwendigsten Merkmale. Der Eingangsbereich war durch eine Vorhalle mit Säulen und Rundarkaden überdacht. Die Außenwände waren mit einer fein reliefierten ockerfarbenen Klinkerfassade und umlaufenden Friesen gestaltet.

Beschreibung:

Mit der Einrichtung der Landesheil- und Pflegeanstalt (LHA) im Herbst 1933 ging eine weitreichende personelle Kontinuität einher. Auch mehrere Verwaltungskräfte des vorherigen Kindersanatoriums wurden übernommen. Zum 1. Oktober 1933 übernahm der damals 53 jährige Dr. Ernst Schneider die Funktion als leitender Arzt, ab 1935 mit dem Titel „Ärztlicher Direktor“. 1936 waren acht der 99 Angestellten in der LHA dem Verwaltungsbereich zugeordnet. Darunter der im selben Jahr vom Bezirksverband nach Weilmünster gesandte Oberinspektor Karl F., der fortan der oberste Verwaltungsbeamte vor Ort war. 1938 wurde der Vertraute Fritz Bernotats zum Amtmann befördert. Schneider gab 1945 zu seiner Entlastung an, dass ihm in diesem Zuge sämtliche Direktionsgeschäfte weggenommen worden seien. Bernotat selbst verbrachte regelmäßig die Wochenenden in seinem “Jagdschlößchen“ unweit des Anstaltgeländes und griff aufgrund dieser Präsenz unmittelbarer in die Anstaltspolitik ein als in den anderen nassausischen LHA.

Der Bezirksverband überstellte im Sommer 1940, ein halbes Jahr vor Beginn der Gasmordaktion in Hadamar, etwa 1.500 auszufüllende Meldebögen. Nachdem Schneider angab, der Forderung innerhalb der gesetzten Frist von einem Monat nicht nachkommen zu können, wurde Dr. Otto Henkel damit beauftragt. Zusammen mit einer Stenotypistin bearbeitete der ehemalige Direktor der Anstalt Hadamars die Meldebögen binnen zwei Wochen.

Die Verwaltungsangestellten der nassauischen Anstalten waren ab 1941 auch direkt in den operativen Ablauf der Transporte eingebunden. Die „T4“-Organisation stellte die „Transportlisten“ zu, in denen die zur Ermordung selektierten Personen und der entsprechende Transporttag mitgeteilt wurden. In Weilmünster erhielten die Oberschwester und der Oberpfleger die „Transportlisten“ und die Patientinnen- und Patientenakten. Als nächstes wiesen sie das Pflegepersonal in den Stationshäusern an, die vorgesehenen Menschen für den vorgesehenen Transporttag reisefertig zu machen. Damit unterscheidet sich dieser Ablauf personell von bspw. dem in Eltville (Eichberg), wo Verwaltungsangestellte sich um Suche und Mitgabe der Krankenakten kümmerten.

Die Verwaltungsangestellten waren mit der Aufgabe der Täuschung der Angehörigen beauftragt. Im Januar 1941 erfolgte eine Besuchssperre aus „Gründen der Reichsverteidigung“ in den Anstalten des Bezirksverbands bis zum Kriegsende durch Bernotat, was in 1941 zu nur noch wenigen Angehörigenbesuchen führte. Mit der Aufnahme der Mordaktion und dem stetigen Transportstrom in die „Zwischenanstalt“ und von ihr nach Hadamar, sollten Angehörige und Familien der Patientinnen und Patienten gezielt verwirrt werden. So sollte ein Eingreifen in den Mordprozess verhindert werden. Hierfür wurde ein dreistufiges Informationsschema genutzt. Für die Information über die Verlegungen der Patientinnen- und Patienten aus den Ursprungsanstalten nach Weilmünster und von Weilmünster nach Hadamar wurden zwei Formbriefe verwendet, die in der Hausdruckerei des Bezirksverbands hergestellt wurden. Diese konnten mit nur geringem Aufwand ausgefüllt werden. In einem ersten Brief, der nur durch Name und Geburtsdatum, dem Aufnahmedatum in die „Zwischenanstalt“ und der Unterschrift des Anstaltsdirektors ergänzt werden musste, erging Information über die Ankunft in Weilmünster. Wenige Wochen später, am Tag des Transports nach Hadamar, erfolgte die zweite Meldung, über die Weiterverlegung aus Weilmünster in eine angeblich unbekannte Einrichtung. In beiden Schreiben bezog man sich auf Anordnungen des Reichsverteidigungskommissars. Durch diesen Verweis auf die Legitimation durch eine übergeordnete Struktur sollte der Bevölkerung und den Angehörigen eine schlüssige Begründung der tausendfachen Verlegung von Patientinnen und Patienten gegeben werden. Außerdem wurde nachdringlich gebeten von Anfragen an die Verwaltung in Weilmünster zum Verbleib der Personen abzusehen und die Meldung der aufnehmenden Anstalt, die binnen 14 Tagen ergehen solle, abzuwarten. Bis dahin überlies die „T4“-Organisation die Kommunikation Verwaltungsangestellten vor Ort, ehe die Kommunikation mit der Information über den Tod von ihr übernommen wurde.

Darüber hinaus war die Verwaltung vor Ort auch an der Sicherstellung der reibungslosen Finanzabwicklung des massenhaften Mords beteiligt. Bis zur Gründung der „Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten“ im Frühjahr 1941 übernahmen die „Zwischenanstalten“ selbst die nötigen Verwaltungsmaßnahmen zur Verschleierung und Vertuschung der zehntausenden Tötungen. Dafür wurden Kostenträger über den tatsächlichen Aufenthaltsort der entsprechenden Patientinnen und Patienten getäuscht. Im Falle Weilmünsters blieb eine Information an die Kostenträger gänzlich aus. Die Pflegekosten wurden weiter an die Ursprungsanstalten Alzey, Goddelau und Heppenheim ausgezahlt. Im Anschluss an die mehrwöchige Unterbringung in Weilmünster erfolgte dann eine Rechnungsstellung dafür durch die Verwaltung der LHA an die entsprechende Ursprungsanstalt.

Eine von der „T4“-Zentrale angestellte Verwaltungsangestellte aus Hadamar, arbeitete im Laufe des Jahres 1942 - nach dem Stopp der Gasmordaktion in Hadamar - in der Verwaltung Weilmünsters. Unter anderem durch die mangelhafte Nahrungsmittelversorgung stiegen die Sterbezahlen in Weilmünster rasant an. Mit 46 Pfennigen pro Tag Pro Patientin oder Patient lag der Beköstigungssatz des Bezirksverbands 1937 sehr niedrig, wurde 1944 sogar noch um mehr als 4% auf 44 Pfennig reduziert. Die systematische Unterernährung als Mordmethode ist als Tat der regionalen und überregionalen Verwaltung zu verstehen. Die individuelle Verantwortlichkeit vor Ort in Weilmünster ist schwer zuzuordnen. Die Bereitstellung eines Essenangebots, deren Kosten noch deutlich unter dem offiziellen Beköstigungssatzes liegt, liegt aber in der Verantwortung der Verwaltung. Denn ab Mai 1938 bestimmten die obersten Verwaltungsbeamten der Anstalten (in Weilmünster ab 1936 Karl F.) über den An- und Verkauf von Lebensmitteln und waren „für den gesamten Wirtschaftsbetrieb (…) einschliesslich (sic!) der mit diesen verbundenen Gutsbetrieben.“ verantwortlich. Eine Verbesserung der Ernährung der Patientinnen und Patienten habe Karl F. stets abgelehnt, während Pflegerinnen und Pflegern, die zum Transport nach Hadamar berufen waren Sonderkost erhalten haben sollen. Auch auf Lebensmittelunterschlagung gibt es in Weilmünster deutliche Hinweise, wobei die Anschuldigungen nie zu Verfahren führten. Eine Zeugenaussage aus 1946, dass das Pflegepersonal, dessen Beköstigungssatz allerdings auch etwa doppelt so hoch lag, qualitativ und quantitativ besser verpflegt worden sei, bestätigte ein angeklagter Pfleger. Eine andere Zeugin sagte aus, dass einer der Ärzte Lebensmittelportionen vom Küchenchef erhielt.

Nutzungsanfang (früheste Erwähnung):

1933

Nutzungsende (späteste Erwähnung):

1945

Nutzung vor NS-Zeit:

1895 Baubeginn

Indizes

Orte:

Weilmünster

Sachbegriffe:

Verfolgung · Euthanasie · Gesundheitswesen · Zwischenanstalten

Nachweise

Literatur:

Ungedruckte Quellen:

Weblinks:

Gedenkort Kalmenhof e.V.: Gedenkbuch Weilmünster (31.5.2023)

Fachtagung: "'Zwischenanstalten'. Ein besonderer Typus Anstalt im NS"? (15.11.2023)

Landesamt für Denkmalpflege: "Psychiatrisches Landeskrankenhaus, Ehem. Irren-, Heil- und Pflegeanstalt" Weilmünster (1.7.2022)

Abbildungen

Abbildungen:

Zitierweise
„Weilmünster, Verwaltungsgebäude, Heil- und Pflegeanstalt“, in: Topographie des Nationalsozialismus in Hessen <https://www.lagis-hessen.de/de/subjects/idrec/sn/nstopo/id/3534> (Stand: 18.2.2024)